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5. Juli 2022

Immer ich!

Lesezeit ca. 7 Minuten

Die Verfügbarkeitsheuristik

Haben Hollywoodstars und Politiker mehr schlüpfrige Skandale als andere Leute?
Ist der Flugverkehr noch sicher?
Müssen wir etwas gegen die ansteigende Gewaltbereitschaft der Teenager unternehmen?
Wie groß ist die Gefahr, dass unser Projekt scheitern wird?
Und wer macht hier eigentlich immer die ganze Arbeit, gießt auch mal die traurige Büropflanze, entfernt die Spinnweben im Keller und bringt den Müll raus?

Fragen über Fragen, die ich nicht wirklich beantworten kann, weil ich keine konkreten Zahlen habe. Es sind Schätzfragen. Was würden Sie vermuten?
Noch viel spannender: Wie kommen wir zu unseren Einschätzungen?

Um was es geht

Die Verfügbarkeitsheuristik gehört zu den Urteilsheuristiken.
Wir wollen die relative Häufigkeit von Ereignissen oder die Größe einer Kategorie abschätzen, und wie bei anderen Urteilsheuristiken auch, ersetzen wir dafür die ursprüngliche Frage durch eine andere, die wir beantworten können.

Die neue Frage lautet: „Wie leicht sind mir Beispiele eingefallen?“

Unsere Heuristiken sind viele tausend Jahre alt. Als wir sie entwickelten, gab es noch keine Massenmedien, sondern nur unsere eigenen Erfahrungen und Beobachtungen sowie die Erfahrungen, die andere mündlich mit uns teilten.
Wenn ich schon häufig gehört habe, dass ein Mensch am Wasserloch vom Säbelzahntiger angegriffen wurde, dann ist das entweder wirklich schon ziemlich oft passiert, oder die Information, die ich aus dieser Geschichte lernen kann, ist sehr wichtig und daher wird die Story häufig weiter erzählt, weil sie als spannend wahrgenommen wird.

In beiden Fällen tue ich gut daran, die Gefahr sehr ernst zu nehmen und Angriffe von Raubtieren an Wasserlöchern für recht häufig zu halten. Die Verfügbarkeitsheuristik war zumindest damals sehr nützlich.
Heute werde ich an jeder Ecke mit Nachrichten konfrontiert, deren Häufigkeit nichts mit der Häufigkeit des Phänomens selbst, oder mit meiner persönlichen, tatsächlichen Gefährdung oder Chance, oder mit dem Überleben in meiner Gruppe zu tun haben. Dass ich mehr Schlagzeilen darüber lese, dass ein Politiker oder Star in einen Skandal verwickelt ist, als dass irgendein Unbekannter dasselbe macht, hat nichts mit der Häufigkeit von Skandalen in der jeweiligen Berufsgruppe zu tun.

Mir fallen mehr Skandale von Stars ein als von Normalos, weil über die Normalos nicht so häufig, so lang und breit berichtet wird.

Auf die Frage nach der Sicherheit des Flugverkehrs reagiere ich spontan ähnlich.
Falls in den Wochen vor der Frage zwei Flugzeuge abgestürzt sind, wurde in den Medien viel darüber berichtet und mein Gehirn wurde häufig mit der Gefahr eines Flugzeugunglückes konfrontiert. Gleichzeitig sind diese Nachrichten dramatisch und verursachen starke Gefühle, weshalb sie besonders leicht erinnert werden. Vermutlich wurden sogar Parallelen zu früheren Unglücken gezogen, an die ich mich deshalb jetzt auch wieder sehr leicht erinnern kann.
In der Folge halte ich wenige Wochen nach einem oder gar mehreren Flugzeugabstürzen diese spontan für weit häufiger, als es der statistischen Wahrheit entspricht. Diese Verzerrung hält eine Zeit lang an und legt sich dann wieder.

So ist das mit den kleinen Risiken.

Entweder wir ignorieren sie ganz und gar, oder wir überschätzen sie maßlos – dazwischen gibt es nichts!“ - Daniel Kahneman

Und was ist mit der traurigen Topfpflanze und den Kellerspinnen?

Häufigkeit und Drama sind nicht das Einzige, was zu einem leichteren Abruf der Beispiele führt.
Wenn mir eine fette, ekelige Kellerspinne beim Putzen entgegengekommen ist, ist das nicht wirklich dramatisch, aber trotzdem mit starken Gefühlen belegt. Außerdem kann ich mich an viele weitere Einzelheiten erinnern, an die Empfindung des Besens in meiner Hand, an sein Gewicht, an das Treppensteigen, den Kellergeruch, die schwere Kellertür und ihr Quietschen, die Kühle auf meiner Haut. Der Balanceakt mit den vollen Aschenbechern. Der Anblick schmieriger Mülltonnen. Schließlich erinnere ich auch das befriedigende Gefühl, die Welt ein wenig sauberer, schöner und gemütlicher gemacht zu haben und an die Freude darüber, etwas für unsere Gemeinschaft geleistet zu haben.
Je mehr Sinneseindrücke, Empfindungen und Gefühle mit einem Ereignis verknüpft sind, desto leichter kann ich es abrufen.

Es ist also sehr gut möglich, dass mein Kollege genau so oft putzt, wie ich, und auch genau wie ich ehrlich davon überzeugt ist, selbst immer den Löwenanteil zu leisten.


Wer hier tiefer einsteigen möchte, dem sei das Buch „Schnelles Denken, Langsames Denken“ von Daniel Kahneman empfohlen.


Warum das wichtig ist

Der Verfügbarkeitsfehler, die Fehleinschätzung der Größe einer Kategorie oder der Häufigkeit eines Ereignisses aufgrund der Abrufleichtigkeit von Beispielen, lässt sich gut vermeiden oder entschärfen.

  • Falls Sie das deutliche Gefühl haben, dass Sie in ihrer Familie, in ihrem Büro oder Übungsraum so ziemlich der einzige sind, der gelegentlich mal den Feudel schwingt und dass die anderen ihren außergewöhnlichen Einsatz nicht ausreichend würdigen, stellen Sie folgende Frage in die Runde:
    „Wie hoch schätzt ihr euren jeweiligen persönlichen Anteil ein?“
    Vorausgesetzt, dass alle aufrichtig sind und es keinen Verfügbarkeitsbias gibt, müsste sich der Anteil aller Personen an der gesamten geleisteten Arbeit auf hundert Prozent summieren. In der Regel ist die Summe der geschätzten eigenen Anteile deutlich größer als hundert Prozent.
    Das gilt nicht nur für tugendhafte Dinge wie Arbeiten, an die man sich viel besser und leichter erinnert, wenn man sie selbst erledigt hat, sondern auch für unrühmliche Sachen, wie zum Beispiel das Anzetteln eines Ehestreits.
    Häufig entschärft diese Frage mit dem Hinweis auf die hundert Prozent schon einen aufkommenden Streit, wenn sich alle darüber bewusst werden, wie die eigene Einschätzung natürlicherweise verzerrt wird, denn Streit entsteht meist, wenn mehrere Personen den Eindruck haben, wesentlich mehr beizutragen als alle anderen.
  • Apropos Ehestreit: werden die beiden Ehepartner in der Paarberatung gebeten, jeweils zehn positive Eigenschaften an ihrem Partner aufzulisten, können sie sich anschließend noch weniger leiden als vorher.
    Die unerwartete Mühe, die es kostet, zehn Beispiele aus der Kategorie “gute Eigenschaften meines Partners” aufzuzählen, führt zu der Einschätzung, die Kategorie könne nicht sehr groß sein.
  • Passen Sie auf ihr Selbstbild auf!
    Wenn Sie gebeten werden, sechs Beispiele zu nennen, in denen sie besonders durchsetzungsstark waren, wird ihnen das vermutlich recht leicht gelingen.
    In der Folge halten Sie sich für einigermaßen durchsetzungsstark.
    Werden Sie stattdessen gebeten, zwölf Beispiele zu nennen, wird es unerwartet schwierig.
    Spätestens nach dem achten Beispiel, müssen die meisten Menschen ziemlich hart nachdenken, um weitere vier Beispiele auszugraben. Diese unerwartete Abrufschwierigkeit verleitet sie dazu anzunehmen, sie seien eher durchsetzungsschwach.
  • Auf Managementebene müssen wir häufig Entscheidungen treffen, bei denen wir verschiedene Risiken gegeneinander abwägen. Halten Sie bestimmte Ereignisse für häufig oder wahrscheinlich, überlegen Sie, ob Sie eventuell einen Verfügbarkeitsfehler begangen haben, indem Sie die Frage nach dem tatsächlichen Risiko durch die Frage ersetzt haben, wie leicht Ihnen Beispiele eingefallen sind.
    Umgekehrt genau so: Glauben Sie, das Risiko, dass Situation X eintritt, sei gering? Prüfen Sie, ob das daran liegen könnte, dass ihnen persönlich gerade nur wenige oder gar keine Beispiele einfallen, und ob das bedeuten muss, dass es nur wenige oder keine gibt.
  • Schlägt der Elternrat vor, an der Schule ihrer Kinder harte Maßnahmen einzuführen, um der zunehmenden Gewalt von Teenagern Einhalt zu gebieten, fragen Sie sich, ob die Gewalt von Teenagern tatsächlich zugenommen hat, oder ob das nur so erscheint, weil gerade sehr viel darüber gesprochen und geschrieben wird, da es in jüngster Zeit ein oder zwei bemerkenswerte Fälle gab.

    Behalten Sie das auch für Einstellungsgespräche, Feedbackfragen für Bildungsangebote und andere Formate im Gedächtnis. Wenn Sie möchten, dass eine Größe nicht zu klein eingeschätzt wird, sorgen Sie dafür, dass ihrem Gesprächspartner spontan eine ausreichend große Anzahl an Beispielen einfällt oder bitten Sie nur um wenige Beispiele.Es geht übrigens nicht um die Abrufschwierigkeit allein. Liefert man den Teilnehmern einen glaubhaften Grund für die Abrufschwierigkeit, verschwindet der Effekt. Dabei reicht es aus, dass der genannte Grund glaubhaft ist, er muss nicht wahr sein. Was sich negativ auf die geschätzte Größe oder Häufigkeit auswirkt, ist die unerwartete und nicht erklärte Schwierigkeit, sich an Beispiele zu erinnern.

Unterm Strich

Wenn Sie wichtige Entscheidungen treffen, oder folgenreiche Gespräche führen möchten, bei denen geschätzte Größen und Wahrscheinlichkeiten eine Rolle spielen, achten Sie darauf, die eigentliche Frage zu beantworten. Begehen Sie nicht den Verfügbarkeitsfehler und antworten stattdessen auf die Frage, wie viele Beispiele Ihnen einfallen, es sei denn, Sie wollen das so.

Einen Fall, in dem das gewollt und erfolgreich war, hat Amadeus Pachmann im CBO-Nugget Heureka! beschrieben.

Förderlich für die Abrufleichtigkeit sind:

- Das Beispiel oder die letzte Erinnerung an das Beispiel ist noch nicht lange her.

- Wir haben uns schon häufiger, besonders in letzter Zeit, an das Beispiel erinnert.

- Wir knüpfen starke Emotionen an das Beispiel.

- Wir erinnern viele verschiedene Sinneseindrücke.

- Wir haben das Beispiel durch starke Assoziationen fest verankert.

- Wir versuchen nicht, uns an viele Beispiele zu erinnern.

- Wir befinden uns geistig im entsprechenden Bezugsrahmen.

Wenn Sie diese Punkte in Ihrer Marketingkommunikation beachten, haben Sie einige der wichtigsten Aspekte des Business Storytelling gemeistert!

Chief Behavioral Officer gesucht

Es gibt etliche Fälle, in denen die Verfügbarkeitsheuristik auch in unserem modernen, privaten und Business Alltag noch hervorragend funktioniert. Allerdings gibt es auch etliche Fälle, in denen sie von manipulativen Geschäftemachern und Populisten schamlos ausgenutzt wird.

- Welche Beispiele fallen Ihnen jeweils ein?
- Für welche Kategorie sind Ihnen mehr Beispiele eingefallen?
- Wie schätzen Sie das Größenverhältnis beider Kategorien ein?

Wenn Sie uns Tipps oder Feedback senden möchten, dann schicken Sie uns eine E-Mail an redaktion@cbo.news. Vielen Dank.

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Lita Hagen

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